Kübra Böler
Dann war es plötzlich ganz nah - das Corona-Virus. Von der Epidemie zur Pandemie. Plötzlich mussten alle Zuhause bleiben. Ich hatte bereits nach der vergangenen JCM im Februar angefangen, nur noch das Auto zu benutzen. Meine Angst hatte ich da noch im Griff.
Am 13. März war es dann soweit: die ersten Moscheen schlossen ihre Türen wegen des Virus. Ich sollte an dem Abend einen Vortrag in einer Jugendgruppe halten und war vorher in Halimas alter Wohnung zum Ausmisten und Aufräumen. Es passte mir auch in den Kram, da ich nun genug Zeit hatte, um Halimas Arbeitszimmer so gut es geht auf Vordermann zu bringen.
Die Woche drauf schrieb ich meinem damaligen Chef, ob es okay sei, wenn ich ab jetzt homeoffice mache, bis sich die Lage wieder beruhigt. Da ich durch meine Immunschwäche zur Risikogruppe gehöre, willigte er ein. Gesundheit und Sicherheit gehen schließlich vor. Hatte ich schon erwähnt, dass ich eigentlich eine Hausarbeit bis zum 31.03.2020 abgeben sollte?
Irgendwann mitten im Sommer stellte ich folgendes fest: Corona triggerte meine überwunden geglaubten Ängste.
Seit meiner vorläufig diagnostizierten Immunschwäche 2013 mit Ausblick auf eine Knochenmarktransplantation, war Arbeiten immer meine Bewältigungsstrategie. Zeitweise habe ich in meinem Bachelorstudium in drei Jobs parallel gearbeitet. Verrückt? Naja, die Arbeit konnte ich kontrollieren, die Unberechenbarkeit meines Körpers nicht.
Genau so und nicht anders verlief es von Mitte März bis ca. Anfang Juli.
Das ganze Jahr war eine Achterbahnfahrt für mich: Zwischen Todesangst, Lebenswillen, Selbstzweifeln, Selbstbewusstsein, Erleichterung, Frust und Hoffnung.
Wie ich damit umgegangen bin und immer noch umgehe? Achtsamkeit. Geduld. Entschleunigung. Statt gegen den Strom zu schwimmen, lernte ich nach und nach, mich von diesem tragen zu lassen und meine Energie zu wahren. Auch der Austausch mit Freund:innen half mir, mit meiner Situation besser klar zu kommen. Zu wissen und mir immer wieder zu bestätigen, dass es nicht nur mir so geht, tat manchmal ganz gut. Auch der Austausch mit meiner Mutter, Chefin und allgemein Kommunikation hielten mich auf Trab, gaben mir Kraft und neue Energie. Ohne meinen Psychoonkologen hätte ich vor allem die Zeit von April bis Ende September schwer überstanden. Mich meinen Ängsten stellen wurde für mich zu einer Reise zu mir selbst voller Erkenntnisse, Trauer und doch am Ende vor allem eins: Heilung. Der Glaube versetzt Berge sagen wir immer. Ja, das tut er. The best way out is through – dieses Motto gilt für die Überwindung meiner Ängste und es ist ein Lernprozess. Die Entschleunigung durch Erkenntnissuche und Austausch mit anderen machte mir deutlich, wie wohlwollend wir die meiste Zeit eigentlich sind, jedoch durch Missverständnisse den Weg zueinander versperren. Innehalten und Zuhören, nachdem ich gesprochen habe – das ist für mich persönlich eine der besten Möglichkeiten gewesen, die Achterbahn der Gefühle und das Chaos in dieser Pandemie anzunehmen und gelassener zu werden. Wie Dr. Alan Watkins in einem seiner TED Talks sagt: emotions are energy in motion. Diese Tatsache als solche anzunehmen hilft mir bis heute zu erkennen, wenn ich wieder aus reiner Emotionalität oder Überforderung reagiere, statt innezuhalten und besonnen zu agieren. Wenn du es eilig hast, gehe langsam, sagte eine gute Freundin zu mir. Ich übe und werde langsam und sicher besser.
Als ich am 13.03. die Nachricht der Moschee-Schließungen kam, wusste ich nicht, wie sehr es meinen Alltag beeinflussen würde. Die Moschee ist für mich wie mein zweites Wohnzimmer - ich spaziere mit einer Selbstverständlichkeit rein, wie ich sie sonst nur für mein eigenes Zimmer habe. Plötzlich durfte ich nicht mehr in die Moschee. Das kannte ich so noch nicht. Später im Jahr fiel mir ein, dass ich Anfang des Jahres 2020 in Hebron ein ähnliches Erlebnis hatte: ich musste durch eine Sicherheitskontrolle, um in die Höhle der Patriarchen eintreten zu dürfen. Natürlich nur in den Moscheeteil.
Wenn ich also nicht in die Moschee durfte, dann holte ich die Moschee zu mir. Um genau zu sein, sind viele Jugendgruppen, denen ich folgte, auf online-Unterricht umgestiegen und das auf den unterschiedlichsten Plattformen: Zoom, Instagram Live, Skype, Webex, um nur einige zu nennen. Einige Moscheegemeinden haben sich vor allem YouTube und Facebook-live zunutze gemacht.
Das Problem schien gelöst, doch der Schein trügt. Ich konnte zwar meine Vorträge halten und Wissen vermitteln, doch der Austausch war erschwert.
Da viele in meiner Umgebung ungern vor der Kamera standen oder andere Plattformen bevorzugten, sprach ich oft meinem eigenen Bild zu oder in kleine schwarze, weiße oder graue Video-Fenster hinein. Ich war verbunden und gleichzeitig getrennt. Es war eigenartig.
Manchmal war es schön, in meinem eigenen geschützten Raum mit anderen Personen Kontakt aufzunehmen. Ich meine, wer verbringt nicht mal einen entspannten Tag in Jogginghose?
Jedenfalls dachte ich am Anfang „Alhamdulillah, ich kann mich besser strukturieren.“ – Doch weit gefehlt! Schnell wurde es mir zu viel, weil ich plötzlich gar keine Struktur hatte. Mein Homeoffice steht neben meinem Bett. Wie oft bin ich aus dem Bett gefallen und habe mich wortlos direkt an den Laptop gesetzt? Zu oft. Und auch emotional wurde es mir zu viel: Ich war von wenig Menschen (Mama, Papa, Schwester) umgeben, jedoch hatte ich mit viel zu vielen Menschen zu tun. Alle waren plötzlich in meinem privaten Raum, meinem Ruhepol. Zugegeben, ich bin sehr stolz auf mein Bücherregal, weil sie einfach prächtig aussieht und mich glücklich macht – doch sowohl im Studium, Ehrenamt und auf der Arbeit hatte ich immer mal wieder mit Menschen zu tun, die ich jetzt nicht unbedingt in meinen privaten Raum lassen würde.
Draußen spazieren gehen war lange Zeit auch so eine Sache: Als Risikopatientin hatte mich früh eine unterschwellige Angst gepackt und schon kleine Menschenansammlungen stressten mich ungemein, sodass ich kaum das Haus verließ. So kamen natürlich alle möglichen Stressfaktoren für mich zusammen: Das Projekt, in dem ich arbeitete, sollte gut laufen, die Uni sollte wie gewohnt laufen bzw. sollte mich die Pandemie nicht davon abhalten, in Ruhe meine Hausarbeiten zu verfassen. Doch weit gefehlt, Frau Böler! Rückblickend bin ich verwundert darüber, wie hoch meine Selbstansprüche in einer Pandemie waren und wie hartnäckig ich mich an ihnen festgehalten habe. 2020 hat eine beachtliche Anzahl an Nachtschichten, um einfach fertig zu werden. Doch so wirklich „fertig“ werden wir ja nie, oder?
Grenzen setzen war 2020 ein großes Thema für mich. Sowohl im Privaten als auch im Beruflichen. Die Pandemie hat den Umgang mit mir selbst und meinen Mitmenschen grundlegend verändert. Zeit- bzw. Selbstmanagement sind nach wie vor herausfordernd, doch ich habe für mich festgestellt, dass ich eine eigene Routine brauche, jenseits von einem Miracle Morning, Robin Sharmas 5-Uhr-Club. Eine Routine, die mir in solchen ungewöhnlichen Zeiten Halt gibt. Sei es ein „Ortswechsel“ wie vom Schreibtisch in eine andere Ecke des Zimmers, oder auch handy- und internetfreie Zeiten: Probieren geht über Studieren. Das schlechte Gewissen und die innere Kritikerin sprechen gerne und vor allem Laut, doch auch da habe ich festgestellt: Es gibt Schlimmeres im Leben. Und hey – wir sind in einer PANDEMIE.
Auch habe ich durch die Pandemie festgestellt, dass ich im gemeinschaftlichen Sinne ein wenig sesshaft sein möchte: Als Mensch, der offen für jede muslimische Gemeinschaft ist und Moscheen und Gebetshäuser auch dementsprechend nutzt, wurde mir klar, dass ich doch gerne eine stärkere Verbundenheit nicht nur zu dem Raum, sondern auch zu der jeweiligen Gemeinschaft hätte. Und nicht nur ein „As-salam alaikum Schwester, wie geht es dir?“.
Naja, die Pandemie ist nicht unbedingt die beste Situation, um sich mit einer Gemeinschaft zu verbinden, wenn diese nicht zusammenkommen kann. Gleichzeitig ist es auch eine Chance, aus einer geschützten Umgebung heraus eine neue Umgebung zu erschließen.
Doch da kam schon das nächste Hindernis: Wo finde ich die Gruppen? Wie finde ich Anschluss im World-Wide-Web? An wen kann ich mich wenden?
Mir wurde klar, dass viele Moscheegemeinden viel Nachholbedarf im Bereich Öffentlichkeitsarbeit und Sichtbarkeit haben. Zumindest trifft es auf die Gemeinden zu, denen ich mich „annähern“ möchte. Wenn du wen kennst, der wen kennt, der Kontakt zu einer Gruppe hat, ist es einfacher, Zugang zu finden. Doch selbst das „Reinkommen“ ist kein Garant dafür, Teil einer Gruppe zu werden. Doch Soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram, WhatsApp, Telegram sind gute Möglichkeiten, um einen ersten Anschluss zu bekommen.
Doch auch da ist eine Balance für mich sehr wichtig gewesen: Plötzlich war sehr vieles verfügbar und möglich, sogar parallel. Es war Fluch und Segen zugleich.
Auch die Art und Weise der Kommunikation hatte sich verändert: Durch die Reizüberflutung der Online-Vernetzungen in Studium, Arbeit und Ehrenamt merkte ich bald, dass auch meine Konzentration darunter litt. Meine Aufmerksamkeitsspanne war kürzer als gewohnt.
Neue Umstände, neue Herausforderungen.
Das ist auch der Grund, warum ich meinen Vortrag kürzer gehalten habe: Gemeinsam in einem Raum sitzen und einander zuhören ist eine andere Erfahrung, als alleine vor dem Bildschirm zu hocken und jemandem in einer großen Runde zuzuhören.
Zu der Frage, wie wir unsere religiösen Gemeinschaften und den interreligiösen und interkulturellen Dialog zukunftsfähig gestalten können, habe ich persönlich keine allumfassende Lösung, möchte jedoch folgende Punkte festhalten und zum Gedanken- und Meinungsaustausch einladen:
1. Trotz Pandemie ist es möglich, in Kontakt zu bleiben.
2. Online ist vieles möglich, jedoch können wir unsere Präsenz-/Offline-Formate nicht eins zu eins übertragen, da Online-Formate andere Voraussetzungen erfordern und einfach anders sind.
3. Wir sind in der Lage, auch online gemeinsam zu beten, uns auszutauschen und zu lernen. Wichtig ist hier Länge und Methoden zu überprüfen und Mut – Trau dich, Neues auszuprobieren.
4. Digitale Sichtbarkeit im Internet ist ein Muss für religiöse Gemeinschaften. Hier gilt es zu überlegen: Was haben wir bereits und wie können wir es sichtbar machen? Wollen wir das überhaupt?
5. Wird alles wieder „normal“, wenn die Pandemie vorbei ist? Oder gibt es Aspekte und Tools, die wir weiterhin berücksichtigen und nutzen sollten?