Pfarrer Mirko Lipski-Reinhardt
Ich bin 32 Jahre alt und ev. Pfarrer in der Kirchengemeinde Hünxe am Niederrhein. Das diesjährige JCM-Thema ist unglaublich spannend, denn zum ersten Mal in unserer Generation sind wir mit dem Phänomen konfrontiert, dass die gesamte Menschheit – egal wo, egal ob oder welcher Religion sie angehören – vor dieselbe Herausforderung gestellt ist. Die Unverfügbarkeit des Lebens ist seit März 2020 global erfahrbar geworden, hat von unserem Alltag Besitz ergriffen; auch von unseren Religionsgemeinschaften. Wir mussten unsere Gottesdienste anders feiern, unsere Feiertage anders verbringen, haben mit Enttäuschungen leben müssen.
Ich möchte daher, wenn ich aus christlicher Sicht versuche eine Antwort auf diese Frage zu geben, aus meinem vergangenen Jahr als Pfarrer einer „normalen“ Kirchengemeinde und als Pfarrer in den Social Media erzählen.
Die eine Kirche ist ca. 800 Jahre alt; älter als die Reformation Martin Luthers, der sich die Kirchengemeinde Hünxe 1562 anschloss.
Die andere Kirche ist ein 30 Jahre altes Gemeindezentrum. Das bedeutet der Kirchraum wird nicht nur für Gottesdienste genutzt. Der Saal ist auch als Gemeindemittelpunkt geplant, in dem Chorproben oder Feiern stattfinden.
So haben wir dort, wo wir sonntags gemeinsam beten und singen, im vorletzten Jahr die Weihnachtsfeier der Landfrauen gefeiert. Kaffee und Kuchen gab es an langen Tischen, wo sonst die Stuhlreihen stehen. Geselligkeit im Haus Gottes, woran uns der Altar im vorderen Bereich erinnerte. Und natürlich begannen wir die Feier mit einer kurzen Andacht und endeten mit einem Segen.
Diese Form von Geselligkeit in der Kirchengemeinde liegt vielen Menschen in Deutschland oft näher als der sonntägliche Gottesdienst. Es ist typisch, dass sie die Zugehörigkeit zur Kirchengemeinde spüren. Ihnen ist wichtig, dass ihr Kirchengebäude im Dorf steht, aber den Gottesdienst am Sonntag feiern sie selten mit.
Durch dieses Beispiel möchte ich deutlich machen, dass die Corona-Pandemie in der „Volkskirche“[1] einen doppelten Abbruch bedeutete:
Es entfielen mit dem Lockdown ab Mitte März nicht nur die Gottesdienste und die Feiern der Sakramente[2] Taufe und Abendmahl; es entfielen Bibel- und Jugendgruppen, Chöre und Seniorennachmittage. Es wurde ruhig, zu ruhig, in unseren Kirchengemeinden.
Als Pfarrer war ich zu diesem Zeitpunkt seit fünf Monaten in Hünxe tätig. Ich war also noch recht neu in der Gemeinde, als die Corona-Pandemie begann. Eigentlich war ich noch dabei zu lernen, wie meine neue Gemeinde funktionierte; was ihre Geschichte war, was den Menschen hier wichtig war; was sie sich unter Gemeinschaft vorstellten.
Jetzt ging es aber darum von einem auf den anderen Augenblick gänzlich andere und neue Wege zu finden. Zum Glück habe ich eine wunderbare Kollegin, die mit mir zusammen als Pfarrer*in in der Kirchengemeinde tätig ist:
Wir haben nach einer kurzen Schrecksekunden ziemlich schnell mit der Gemeindeleitung („Presbyterium“) beschlossen: Wir wollen die Menschen nicht aus dem Blick verlieren, die in unserer Gemeinde zu Hause sind, die hier ihre Freizeit verbringen und einbringen und denen diese Kirchengemeinde wichtig ist. Aber wir wollen die neuen Wege auch nutzen Menschen zu erreichen, die bisher nur eine geringe oder gar keine Zugehörigkeit zur Gemeinde/Kirche gespürt haben.
Wir wollen den Menschen auf andere Art und Weise von Gott erzählen und sie einladen, ihre spirituelle Heimat im Christentum und in unserer Kirchengemeinde zu finden.
Und so haben wir uns auf den Weg gemacht. Von diesem Weg möchte ich Euch gerne berichten, davon, was wir gelernt haben, davon, was gut gelaufen ist und davon, was nicht so gut gelaufen ist. Und was das Ganze meiner Ansicht nach für die Zukunft bedeutet.
I. Digitaler Neuaufbruch
In Abständen von etwa 10 Jahre veröffentlicht die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) sog. „Erhebungen über die Kirchenmitgliedschaft“. In diesen Studien werden Kirchenmitglieder und konfessionslose Menschen nach ihren Prägungen und Haltungen zur Kirche befragt.
Es wird geschaut wie evangelisches Christentum wahrgenommen wird und warum es den Menschen wichtig ist, einer evangelischen Kirchengemeinde anzugehören oder warum sie die Gemeinschaft verlassen haben. Interessant ist dabei die Beobachtung, dass vor allem ältere Menschen sich der Kirche verbunden fühlen und die Kirchenmitgliedschaft als selbstverständlich betrachten. In der Erhebung von 2012 etwa gaben bei den Unter-30-Jährigen 9% an, dass sie sich der Kirche sehr verbunden fühlen, während 23% sagten, dass sie sich der Kirche überhaupt nicht verbunden fühlten.[3] Die Kirche als Institution hat also – trotz sehr guter und erfolgreicher Jugendarbeit – ein Jugendproblem.
Das mag zum einen daran liegen, dass im Zuge des Traditionsabbruchs die Formen Gottesdienst zu feiern als nicht mehr relevant empfunden werden. Das mag zum anderen daran liegen, dass Kirche sich lange auf traditionelle Kommunikationswege verlassen und dabei neues verpasst hat. Ein gern als Karikatur benutztes Zitat lautet: „Das haben wir schon immer so gemacht.“
Seit März ging es aber nicht mehr so, wie immer: Nicht im Gottesdienst, nicht in den Gruppen und Chören, nicht in den Sitzungen der Gemeindeleitung – von einem Tag auf den anderen mussten wir digital sein:
Für Sitzungen und Verwaltung hat das überraschend schnell erschreckend gut geklappt; aber hier soll es ja um die Religionsgemeinschaft gehen und nicht um die Verwaltung. Daher meine erste Beobachtung:
Seit März 2020 stieg die die christlich-kirchliche Präsenz im Internet, besonders bei YouTube und in den SocialMedia sprunghaft an. Es wurden Blogs zu Glaubens- und Lebensfragen geschrieben, Online-Andachten veröffentlicht, Gottesdienste gestreamt oder per Zoom „hybrid“ gefeiert.
Es entstand eine bunte Vielfalt, die einerseits die „vergessene Generation“ der jüngeren Kirchenmitglieder ansprach, andererseits sich weiterhin damit schwer tat Menschen, die sich der Kirche bisher nicht verbunden gefühlt haben, anzusprechen.
Dennoch veränderte sich das Kirchenbild in der Dorf-Öffentlichkeit, da wir den Einstieg in Kommunikationswege fanden, die schon lange selbstverständlich sind:
Ein Profil der Kirchengemeinde, der Jugendleiterin, der Pfarrer bei Facebook und Instagram ist näher am Leben als die Gemeindezeitschrift, die einmal pro Quartal im Briefkasten landet.
Bei Jugendlichen aus unserem Jugendhaus merkte ich, dass sie durch das Abonnieren meiner und anderer Seiten religiöse Themen wahrnahmen;
auch wenn sie nie sonntags analog einen Gottesdienst besuchen würden.
Meine Pfarrergeneration, die den Umgang mit diesen Medien gewohnt ist, tat sich in der Regel leicht mit diesen Veränderungen; älteren Pfarrer*innen fiel und fällt diese Veränderung oft schwer, denn es stellt so manches auf den Kopf, was uns in der deutschen Kirche lieb und teuer war, denn:
- Digitale Kirche ist nicht an einen Ort gebunden
Im Internet ist das naturgemäß anders. Menschen haben den Vergleich und suchen sich das, was ihrem persönlichen Geschmack entspricht.
Und so entstehen seelsorgliche, spirituelle und freundschaftliche Kontakte zwischen Menschen, die im analogen Leben nie zusammenkommen würden.
Und das führt zu einem zweiten:
- Digitale Kirche ist nicht an eine Konfession gebunden
Und dieses Angebot muss nicht unbedingt das der eigenen Konfession sein.
Besonders zwischen den „großen Konfessionen“ ist ein beliebiges Hin- und Her-Switchen zu beobachten.
Und auch ich als evangelischer Pfarrer finde: Es gibt großartige katholische und freikirchliche Angebote im Internet. Ich habe z.B. auf diesem Wege katholische Priester kennengelernt, die ich niemals im „real life“ getroffen hätte. Aus diesen Kontakten sind teilweise Freundschaften entstanden und diese Freundschaften bereichern mich nicht nur persönlich, sondern auch spirituell. Der erweiterte Blick, über den Tellerrand der eigenen Konfession heraus, lohnt.
Digitale Kirche hat also maßgeblich das Bild von Kirche in den letzten Monaten geprägt und ich würde gerne anhand von zwei Beispielen deutlich machen,
wie unterschiedlich das aussehen kann:
Ia. Die Kirchengemeinde Hünxe bei YouTube
Seit März vergangenen Jahres hat unsere Kirchengemeinde einen eigenen YouTube-Kanal, den wir auf verschiedene Art und Weise genutzt haben.
Ein Schwerpunkt sind Kurzandachten, die wir im Frühjahr teilweise wöchentlich veröffentlicht haben: eine kurze aktuelle Auslegung eines Bibelverses, ein Musikstück, ein Segen. Durch die Veröffentlichung der Links in den Ortsgruppen bei Facebook waren diese Andachten schnell bekannt.
Im März – kurz vor dem Lockdown – fanden die Wahlen zur Gemeindeleitung (Presbyterium) statt. Die neugewählten Presbyter*innen stellten sich im Frühjahr ebenfalls der Gemeinde mit kurzen Videos über YouTube vor.
Das Krabbelgottesdienst-Team (Gottesdienst für Kinder U3) produzierte kurze Erklärvideos zu religiösen Fragen (z.B. „Warum läuten die Glocken?“) und am Heiligen Abend gab es den Nachtgottesdienst als Livestream.
Unabhängig von religiösen Themen nutzten wir den Kanal auch für den Wettbewerb „Hünxe – Deine Stimme“, der aufgrund der Corona-Schutzbestimmungen nur digital stattfinden konnte. „Hünxe – Deine Stimme“ ist ein Gesangswettbewerb, den die Evangelische Jugend Hünxe seit einigen Jahren ausrichtet.
Wir haben als Kirchengemeinde auf diese Art und Weise versucht Verbundenheit mit der Gemeinschaft vor Ort aufrechten zu erhalten und zu zeigen, dass wir „da sind“
Ib. Instagram
Besonders im Social Network „Instagram“ spielen kirchliche und christliche Themen seit dem ersten Lockdown eine größere Rolle. Eine Vielzahl von Angeboten ist regional und überregional, konfessionell und überkonfessionell entstanden.
Man kann kritisch anfragen, ob diese Angebote von Menschen, die Kirche oder christlichen Gruppen bisher nicht nahestanden, gesehen und angenommen werden.
Sie schaffen aber in der „bubble“ auf jeden Fall einen Zusammenhalt und einen (kritischen) Austausch über Glaubensthemen.
So findet über das Medium „Instagram“ nicht nur Verkündigung oder Gebet statt,
sondern auch die Auseinandersetzung um inhaltliche Themen:
Dazu gehören z.B. die Akzeptanz von LGBTIQ*-Menschen in den Kirchengemeinden, der Klimawandel oder gesellschaftlicher Rassismus.
Im Advent 2020 wurde z.B. auf vielen Profilen eine teils kontroverse Diskussion über christliche Privilegien geführt, wenn der Dezember durch die christlich begründete Vorbereitung auf das Weihnachtsfest geprägt ist, während Feste anderer Religionen im öffentlichen Bewusstsein keine bzw. eine untergeordnete Rolle spielen. Hier kamen im Dialog auch jüdische, muslimische oder atheistische Stimmen zu Wort.
Mit zwei Freundinnen, die beide auch als Pfarrerinnen in der evangelischen Kirche tätig sind, habe auch ich an diesem digitalen Aufbruch teilgenommen.
Seit April 2020 betreiben wir den Instagram-Blog @stadt.land.pfarramt.
Dabei beleuchten wir in jeder Woche ein Thema aus Kirche und Gesellschaft
in drei Perspektiven. Jede*r von uns veröffentlicht dazu ein Foto und einen Text mit den passenden Hashtags. Im Juni haben wir in unserem Account in einer Woche einen schwulen schwarzen Trans-Pfarrer aus den USA zu Wort kommen lassen,
der seine Perspektive auf die Black-Live-Matters-Demonstration schilderte.
Im November haben wir für diese Arbeit sogar den 2. Preis beim Medienpreis der
Ev. Kirche im Rheinland gewonnen und seit neuestem sind wir BasisBibel-Influencer der Deutschen Bibelgesellschaft. D.h. wir machen mit anderen Christ*innen Werbung für eine neue deutsche Bibel-Übersetzung in einer zeitgemäßen Sprache.
Am Beispiel Instagram wird auf diese Art und Weise besonders deutlich, wie sich im vergangenen Jahr der christlich-westeuropäische Blick auf „Religionsgemeinschaft“ verändert hat. Vieles hat sich ins Digitale verlagert; doch meiner Kirchengemeinde Hünxe war auch wichtig darüber das Analoge und die Menschen, die nicht im Internet unterwegs sind, aus dem Blick zu verlieren.
II. In der Krise analog sein
Was ein Glück, dass wir in dieser Pandemie so gut miteinander vernetzt bleiben können. Die moderne Technik ermöglicht uns auf weite Strecken miteinander Kontakt zu halten, sodass trotz Kontakt- und Reisebeschränkungen eine solche Tagung wie JCM stattfinden kann.
Doch bei aller Freude stellten wir immer wieder Fest: „Digitales Miteinander“ stößt auch an seine Grenzen. Bestimmte religiöse/kirchliche Rituale können nicht ausschließlich in einer virtuellen oder hybriden Realität stattfinden. Die Taufe (die Aufnahme in die christliche Kirche) braucht z.B. das Wasser, das dreimal über den Kopf des Taufkindes gegossen wird und die dazugehörigen Worte[4]. Es funktioniert nicht, dass der*die Pfarrer*in an einer Stelle ist und per Zoom zugeschaltet die Worte spricht und ein Elternteil an einer anderen Stelle das Wasser über den Kopf gießt: Zeichen und Handlung im Ritual gehören untrennbar zusammen.[5]
Und auch unabhängig von Ritualen zeichnet Kirche als Religionsgemeinschaft der persönliche Kontakt zwischen Menschen aus.
Darum ist es wichtig, die Menschen im Blick zu behalten, die ohne Familie leben
und/oder die keinen Zugang zu digitalen Medien haben.
Die Kirchengemeinden in Deutschland haben in den letzten Monaten versucht, auch diese Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren.
Da überdurchschnittlich viele ältere und alleinstehende Personen die Gottesdienste und geselligen Angebote der Gemeinden wahrnehmen, bricht für diese Menschen besonders viel weg.
In Hünxe haben wir daher z.B. ergänzend zu den Andachten auf YouTube geschriebene Andachten an Menschen aus unserer Gemeinde verschickt. Diese Texte haben wir auch auf unserer Internetseite zugänglich gemacht, damit Familien sie z.B. für die Großmutter zu Hause ausdrucken können.
Andere Gemeinden haben zu den besonderen Feiertagen, wie Ostern oder an Weihnachten Tüten gepackt: Gottesdienst-to-go beinhaltet alles, was man braucht um den Weihnachtsgottesdienst zu Hause zu feiern: Einen kurzen Ablauf, eine Auslegung eines Bibelverses, eine Kerze, ein kleines Kreuz...
Wieder andere Gemeinden bieten Telefongottesdienste an: Wenn man eine bestimmte Telefonnummer anruft, kann man die Predigt des Sonntages mit jedem Telefon/Handy überall abhören.
Überhaupt hat das Telefon hier eine große Bedeutung gewonnen:
Meine Kollegin und ich telefonieren regelmäßig mit Senior*innen aus der Gemeinde,
hören uns Sorgen am Telefon an, beten miteinander.
In meinem Dorf haben wir uns darüber hinaus die Lage unserer Kirche am Marktplatz zu Nutze gemacht. Zwischen dem 20. Dezember und dem 10. Januar hing am Kirchturm ein großes Plakat, für alle sichtbar, auf dem stand: „Die evangelische Kirchengemeinde wünscht frohe Weihnachten und ein gesegnetes neues Jahr.“
Diese und andere Aktionen tun gut. Jedoch ist Kirche nach ihrem eigenen Selbstverständnis nie nur für sich selber da. Uns war es deswegen wichtig, die Menschen im Blick zu behalten, die nicht vor Ort leben, aber dennoch auf unsere Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Normalerweise geschieht dies über Kollekten, d.h. Geldsammlungen im Gottesdienst. Dabei wird nicht nur die eigene Kirchengemeinde bedacht, sondern auch kirchliche und humanitäre Zwecke in aller Welt. Vielen dürfte die Aktion „Brot für die Welt“ der Ev. Kirche in Deutschland ein Begriff sein.
Mein Kirchenkreis Dinslaken, zu dem Hünxe gehört, engagiert sich darüber hinaus besonders in der Hilfe für Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos.
Mit dem Lockdown, mit der „Angst“ in den Gottesdienst zu gehen, haben die kirchlichen Hilfswerke eine wesentliche Einnahmequelle für ihre humanitäre Hilfe verloren. An anderer Stelle hat sich aber auch gezeigt, dass die Hilfe gerade in dieser Zeit von unseren Gemeindemitgliedern als wichtig wahrgenommen wird.
Die Unterstützung für „Lesvos Solidarity“ ist im letzten halben Jahr unglaublich gewachsen. Das war großartig zu sehen.
Und auch ein ökumenischer Hilfsfonds zur Unterstützung der Schwesterkirchen in Afrika in der Corona-Krise wurde immer wieder selbstverständlich und großzügig bedacht.
Mir haben diese Erfahrungen Mut gemacht, dass viele Menschen in dieser Krise Gemeinschaft (neu) entdeckt haben.
III. Die Phase der Enttäuschung und Ermüdung
Was ich bisher erzählt habe, klingt sehr positiv. Und auch wenn das Positive überwiegt, möchte ich die Enttäuschungen und Ermüdungen nicht außer Acht lassen.
Auch wir haben erlebt, dass viele Menschen an und mit dem Virus gestorben sind.
Auch wir erleben wie die Bewohner*innen von Altenheimen unter der Einsamkeit leiden.
Auch in unseren Reihen gibt es Menschen, die nicht jede Entscheidung gutheißen und mittragen.
Besonders in der Zeit vor Weihnachten ist dies noch einmal deutlich geworden.
Denn Weihnachten, das Fest der Geburt Jesu Christi, ist ein Fest, das für viele Menschen sehr emotional ist. Auch für mich.
Und der Heilige Abend, der Beginn des Weihnachtsfestes, ist für viele Christ*innen der Tag, an dem sie selbstverständlich einen Gottesdienst besuchen.
Weihnachten 2020 sind sämtliche analoge Gottesdienste in unserer Kirchengemeinde und in den umliegenden Kirchengemeinden ausgefallen.
Das hat viele Menschen enttäuscht; besonders auch Kinder, die den Gottesdienst am Heiligen Abend traditionell mit dem Krippenspiel[6] mitgestalten.
Viele Familien hatten gehofft, dass mit den Weihnachtsgottesdiensten wenigstens ein „Rest Normalität“ in diesem Jahr bleiben könnte. Sie enttäuschen zu müssen, war für uns alle eine große Enttäuschung. Unser Angebot mit Abstand am Heiligen Abend in der Kirche den Tannenbaum zu sehen und eine Kerze anzuzünden, wurde vielleicht deswegen von vielen Menschen genutzt. Alle hielten sich diszipliniert an die Corona-Regeln. Es hat keine Ansteckungen gegeben.
Jetzt nach einem „Corona-Jahr“ und besonders nach dem „Corona-Weihnachten“ merken wir, dass wir müde sind:
müde davon immer wieder umdenken zu müssen;
müde davon immer wieder umplanen zu müssen.
Wir merken, wie sehr wir auch im Neuen das Alte vermissen:
Die Gemeinschaft, das Singen im Gottesdienst, die Tasse Kaffee nach dem Gottesdienst[7], das Lächeln der Anderen.
IV. Fazit
Wie verändert die Zeit der Isolation unsere Vorstellungen von Religionsgemeinschaft?
Unter dieser Fragestellung habe ich als evangelischer Pfarrer das vergangene Jahr, wie ich es erlebt habe, in den Blick genommen.
Wenn ich nun ein Fazit ziehen muss, so kann das nur vorläufig sein.
Denn die Krise wird uns noch weiterhin begleiten und die Fragen, wie sich Gesellschaft und damit auch Religionsgemeinschaften verändern werden, wird die Zukunft zeigen. Viele Entwicklungen – so sagen Soziologen – werden beschleunigt, an anderer Stelle, werden Entwicklungen hinterfragt und neue Ideen miteinander geteilt, wie wir Menschen, denen religiöse Sprache fremd geworden ist, einen Zugang ermöglichen können.
Die Vorstellung von Religionsgemeinschaft hat sich dabei m.E. gar nicht so sehr verändert: Religionsgemeinschaften sind als aktiver Teil der Gesellschaft gefordert, die im Vertrauen auf Gott/das Göttliche Sinn in diese oft sinnlos erscheinende Welt zu bringen und deswegen auch in der Zeit der Pandemie nicht sprachlos zu werden.
Vielen Dank.
[1] = Kirche, die möglichst viele unterschiedliche Menschen ansprechen will
[2] Zeichen der besonderen Gegenwart Gottes.
[3] KMU V, 86.
[4] Die Worte zur Taufe lauten im Deutschen: „Ich taufe dich im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“
[5] Die meisten christlichen Kirchen kennen die sog. Nottaufe: Das bedeutet, wenn Lebensgefahr für den Täufling besteht, darf jede*r Christ*in taufen. In der Isolation der Pandemie besteht aber nicht zwingend eine Lebensgefahr, sodass in der Regel die Taufe aufgeschoben werden kann.
[6] Das Krippenspiel ist ein kleines Theaterstück im Gottesdienst, in dem die Geschichte der Geburt Jesu, wie sie in der Bibel erzählt wird, dargestellt wird.
[7] Das sog. Kirchencafé, die Tasse Kaffee oder Tee nach dem Gottesdienst, ist in vielen evangelischen Gemeinden ein wichtiger Treffpunkt, der mitunter länger dauert als der eigentliche Gottesdienst.